Mathare Valley, Nairobi, Kenya
Liebe Freunde,
ich war jetzt zweimal in einem riesigen Slumgebiet in Nairobi als Arzt tätig (2014, 2015). Die “German Doctors” betreiben dort seit knapp 20 Jahren eine große Ambulanz. Die Arbeit in dieser medizinischen Station ist sehr gut strukturiert und effektiv. Ich erlebte die helfende humanitäre Arbeit als etwas Schönes. Doch es war noch mehr: Der Slum, das Mathare Valley, dieser einzigartige Kosmos mit seinen 300-400 000 Bewohnern zog mich in seinen Bann. In dieser Website versuche ich, meiner “Faszination Afrika” nachzuspüren.
Dieser Beitrag befasst sich nicht primär mit der Arbeit der German Doctors. Es handelt sich auch nicht um eine umfassende sozio-ökonomische Analyse eines kenianischen Slumgebietes, obwohl beide Themen natürlich anklingen. Es ist mein subjektiver Versuch, die von mir erlebte afrikanische Mentalität an diesem bestimmten Ort, dem Mathare Valley in Nairobi, zu erfassen und dem Leser in kurzen Texten und vielen Fotos zu vermitteln.
Zur Handhabung der Bilder folgende Anmerkungen, die all diejenigen, die im Internet zu Hause sind, gern überspringen dürfen. Wenn man mit dem Cursor auf die Bilder geht und sie anklickt, öffnen sich in der Regel Bilderfolgen, „Galerien“. Ausnahme: Bei sehr großen Bildern, wie zum Beispiel dem ersten Bild, der Blick von oben auf das Tal, tut sich nichts. Es erscheint keine „Hand“, es lässt sich nichts öffnen, nichts verändern. Anders bei großen Bildern, wenn die Hand erscheint. Beispiel: Das erste Bild im Abschnitt „In den Hütten“ – ebenfalls ganz am Anfang – mit der Dame von hinten zwischen den Blechwänden. Klickt man hier, werden die Kleinstbilder „Thumbnails/Daumennägel“ unter dem großen Bild aufgerufen. Die Navigationszeichen für vorwärts und rückwärts befinden sich jeweils mittig am Bildrand. Das „x“ oben rechts führt wieder aus der Galerie heraus. Es macht keinen Sinn, die Thumbnails selber anzuklicken, da dann nur reduzierte Bilder erscheinen.
Schließlich die Kleinbild-Serien, manchmal nur 2 Bilder, wie gleich am Anfang die beiden „Baraka“-Fotos, häufig im Sechserpack, manchmal sind es viele mehr. Hier sollte stets das erste Bild angeklickt werden, woraufhin sich eine Galerie öffnet, durch die man spazieren kann. Dieses System hat den Nachteil, dass man leicht von einer Galerie in die nächste stolpert, weil das Ende einer Bilderserie nicht markiert ist. Beispiel: Die beiden „Baraka“-Fotos. Wenn man über das 2. Bild hinaus weiter auf vorwärts klickt, landet man in der nächsten Galerie, „im Slum“, was mit „Baraka“ direkt nichts zu tun hat. Der technische Aufwand, jede Galerie in sich geschlossen zu halten, wäre sehr groß gewesen. Was tun? Zu schauen, wie lang ist eine Galerie, wie ist überhaupt die Anordnung der Bilder und Textes, auf den sich ja die Bilder beziehen. Ein wenig schauen, was eigentlich gemeint ist, dann kann man den Faden nicht verlieren.
Die Kopfleiste erlaubt es, in die einzelnen Kapitel und Unterabschnitte problemlos zu navigieren. Also dann, viel Spaß!
Knut Sroka
Hamburg, September 2015
Der Slum
Zunächst ein Blick von oben:
Mittendrin “Baraka” (im folgenden Bild am weiß-grünen Schild erkenntlich), die Ambulanz der “German Doctors”. “Baraka” heißt “Segen” auf Suaheli und diese Einrichtung ist ein echter Segen. Hier werden täglich über 300 Patienten aus dem Mathare Valley und Umgebung behandelt. Die 6 deutschen Ärzte sind die einzigen Weißen in diesem riesigen Slumgebiet.
Im Tal
Die Wege und Hütten im Valley habe ich am besten kennengelernt, wenn ich Rose, die Chefin der Sozialarbeiter bei Hausbesuchen begleitet habe. Ich bin auch viel allein losgezogen.
In den Hütten
Rose wird von Community Health Workern begleitet, freiwilligen Helfern, die sich in ihrer Umgebung bestens auskennen. Sie praktizieren nachbarschaftliche Hilfe. Bei akuten sozialen Problemen rückt die Chefin selber an.
Eine typische Junggesellenbude + Junggeselle
Eng ist es überall. Typischerweise ist der 6-8 qm große Raum in der Mitte durch einen Vorhang geteilt. Dahinter findet sich das Bett für ganze Familie, etwa 4-6 Personen. In einer Ecke steht Küchengerät. Ansonsten gibt es noch ein Sofa, gelegentlich elektrisch Licht und auch einen Fernseher.
Auf 1-2 qm ein warmes Essen zu bereiten und auch noch den Abwasch zu machen, diese Kunst beherrschen hier viele Frauen. Die Feuergefahr in den Hütten ist groß.
In ihrer Moral und ihrem Lebensmut nicht zu besiegen, aller Enge und allen Widrigkeiten des Slums zum Trotz.
Diese engen Behausungen sind nicht umsonst. Auch das Trinkwasser muss gekauft werden und ist im Valley teurer als anderswo. Öffentliche Toiletten sind vorhanden, aber Mangelware, vielfach wird auf die “Fliegende Toilette” in Plastiktüten zurückgegriffen.
Rausgeschmissen
Wer seine Miete nicht rechtzeitig bezahlt, dem wird am nächsten Tag die Tür ausgehängt. Dieses Zeichen versteht jeder. Man räumt, bevor der Vermieter seine Schlägertrupps schickt.
Draußen
Mandazis, frittierte Teigbälle, sehr lecker, wenn sie heiß und kross sind.
Hier sind wir im „Kosovo“. Die einzelnen Viertel des Mathare Valleys tragen zum Teil klingende Namen. Ans Mathare Valley schließen sich weitere Slumgebiete an, „Babadogo“, „Riverside“ und andere mehr. Das nicht enden wollende Areal dehnt sich von „Soweto“ bis „Mandela“. Zusammen hausen hier etwa 1-2 Millionen Menschen, gezählt hat sie niemand.
Wer hier schlecht zu Fuß ist, ist verloren.
Die geschäftige Hauptstrasse
Arrival City
Die Vorstellung von einem Slum irgendwo auf der Welt ist geprägt von Bildern hungernder und zerlumpter Menschen, die vor sich hin vegetieren oder dahin siechen. Hier versammeln sich diejenigen, die den Anschluss verloren haben, die das Tempo der sich entwickelnden Welt nicht mithalten konnten. Die von der Gesellschaft Ausgestoßenen, denen nur noch der Abstieg bleibt – ins Valley. Weit gefehlt! Das Mathare Valley ist eine “Arrival City”, eine Ankunftsstadt, in der Menschen leben, die etwas vom Leben wollen, die vorankommen wollen und sich dafür erheblich strecken. Der Begriff der “Arrival City” als eines weltweiten Phänomens ist von Doug Suanders geprägt worden. Über alle Grenzen hinweg ziehen Millionen, eher wohl Milliarden Menschen vom Land in die Stadt. Ihre Ankunftsstätten sind “faszinierende, geschäftige, unattraktive, improvisierte, schwierige Orte, bevölkert von Neuankömmlingen mit großen Vorhaben”, wie Saunders schreibt (Arrival City, 2011).
Im Mathare Valley siedeln ganz überwiegend Luos. Luos sind nach den Kikuyus die zweitgrößte Ethnie in Kenia. Ihr Siedlungsgebiet ist der Westen des Landes in der Nähe des Victoriasees. Dieser Teil Kenias ist von den Herrschenden, durchgehend Kikuyus, wirtschaftlich vernachlässigt worden. Die Infrastruktur ist eine Katastrophe, die Menschen sind arm. Daher der ungebrochene Zuzug nach Nairobi, in die große Stadt, die wirtschaftliche Metropole Ostafrikas. Die jungen Leute, noch ledig oder schon als junge Familie schauen, wer aus der Verwandtschaft schon in Nairobi Fuß gefasst hat und in wessen Nähe und mit wessen Hilfe man dort starten kann. So verlegen die jungen Leute eines Clans, eines Dorfes sukzessive ihren Wohnsitz nachbarschaftlich ins Valley hinein. Man kennt sich, man stützt einander, es bilden sich vielfältige Netzwerke. Die meisten Menschen im Mathare Valley bleiben lange hier, selbst wenn sie nach fleißigen Jahren eigentlich den Absprung aus dem Slum schaffen könnten, weil man hier wie einst im Dorf eng miteinander zusammenhängt.
Der Zusammenhalt von Land und Stadt zeigt sich immer wieder in der Sprechstunde in Baraka, wenn die hiesigen Jungen Besuch von “up-country” bekommen. Die Eltern werden vom Sohn oder der Tochter oder der Enkeltochter mit der Urenkeltochter auf dem Rücken meist schon am 2. Besuchstag zu den German Doctors geschleift. Da die Alten häufig kein Suaheli, sondern nur ihren heimischen Dialekt sprechen, verfallen sie gelegentlich in eine Art „Versteinerung“, während die Jungen mit der Übersetzerin in Kontakt treten. Hier präsentieren sich 2 Generationen an, wie sie kaum unterschiedlicher sein können. Diese Bilder legen nahe, dass der Schritt der Jungen in den Slum hinein Entwicklung bedeutet.
Morgens ziehen unendlich viele proper gekleidete Menschen aus dem Tal heraus und abends reißt der Strom der Rückkehrer nicht ab. Sie versorgen Nairobi mit billiger Arbeitskraft, etwa in der industriellen Zone oder auf dem Bau, die Frauen im Haushalt oder als Wäscherin. In Kalkutta hieß das Zauberwort “Daily Labor”, hier heißt es “Casual Work”. Viele haben im Slum selber kleine Geschäfte aufgemacht, kaufen billig auf den großen Märkten der Stadt ein und verkaufen Kleider, Fisch, Obst, Gemüse, eigentlich alles, was das Herz begehrt. Mandazis, Djapatis (Pfannkuchen), Samosas werden überall gebacken. Es werden Betten gezimmert, geschneidert, gebügelt, Handy Verträge abgeschlossen, Handys repariert, für alles, wofür Bedarf ist, gibt es kleine Geschäfte. Viele beißen sich durch in der Ankunfts-Stadt “Mathare”.
Diese Familie hat es geschafft. Er hat einen festen Job und sie ist sich für keine “casual work” zu schade. Das Mathare Valley ist ihr Zuhause. Sie kennen hier Gott und die Welt und fühlen sich hier wohl bei allen Unwirtlichkeiten an diesem Platz auf der Erde.
Manche versacken im Alkohol, manche gleiten ab in die Kriminalität. Manche scheitern. Die Frau unten kam im Alter von 20 mit ihrem jungen Ehemann hierher. In ihrem Dorf im Luo-Land geht wirtschaftlich fast nichts mehr. Ein wenig Selbstversorgung mit Süßkartoffeln, Yams und Gemüse, kaum Gelegenheit, ein paar Shilling zu verdienen. Ihr Mann verdingte sich in Nairobi im Straßenbau und verdiente ganz gutes Geld, relativ. Sie verrichtete Gelegenheitsjobs. Sie setze 3 Kinder in die Welt, der Mann verdünnisierte sich, sie musste doppelt arbeiten und die Kräfte ließen nach. Sie spielt nun mit dem Gedanken, das Abenteuer Mathare als gescheitert zu beenden und ins heimatliche Dorf zurückzukehren. Als ich sie treffe, wird sie gerade das erste Mal von den Community Health Worker Frauen besucht. Sie freut sich riesig über das Kontakt- und Hilfsangebot und schöpft neuen Lebensmut.
Die Trennungsrate von Paaren scheint im Valley überdurchschnittlich hoch zu sein. Das schwierige, häufig improvisierte Leben in der Arrival City ist nicht gut geeignet, dem Leben Konstanz zu geben. Die jungen Frauen wirken durchaus kess und
selbstbewusst und sparen nicht mit sexuellen Reizen. Wie es heißt, schicken sie gern mal einen jungen Mann in die Wüste, wenn er ihnen missfällt. Dieses freiheitliche Auftreten endet abrupt, wenn sie schwanger werden und ein Kind in die Welt setzen. Dann wird eine Partnerschaft versucht, der offizielle Status heißt von nun an generell “married”. Aber Trennungen sind häufig. Die Kinder verbleiben immer bei der Frau, die dann Hilfe bei ihrer Familie sucht, bei Schwestern, Cousinen oder der eigenen Mutter.
Hilfe und Selbsthilfe
Baraka
In Baraka, der Ambulanz der German Doctors wird fleißig und effektiv gearbeitet. 6 deutsche Ärzte zusammen mit über 80 kenianischen Mitarbeitern versorgen täglich über 300 Patienten aus dem Tal plus Umgebung.
Die Patienten kommen mit den verschiedensten Wunden, Verbrennungen, Knochenbrüchen, mit schlichtem “common cold”, mit Lungenentzündung, Durchfall, den unterschiedlichsten Hautkrankheiten. Jung wie alt kommen mit allem, was das Leben im Slum an Pathologie so hervorbringt. Die entscheidende große Krankheit ist Aids. Im Tal sind etwa 10% der Bewohner HIV positiv. Während die Diagnose “HIV positiv” noch bis vor 15 Jahren ein sicheres Todesurteil war, führen die meisten dieser Patienten dank moderner Prophylaxe und Therapie heutzutage ein normales Leben.
Aids ist nicht mehr das grauenvolle ausgemergelte “slim disease” der achtziger und neunziger Jahre. Es wird an Aids gestorben, ja, besonders wenn sich zur Grundkrankheit eine Tuberkulose gesellt, aber eher selten. Den meisten HIV Positiven sieht man nichts von ihrer Erkrankung an. Sie führen heute ein Dasein wie alle anderen Menschen hier auch, ungebrochen in ihrer Lebensmoral und trotz aller Probleme im Slum mit viel Spaß und Freude im Alltag. Dazu leistet Baraka einen entscheidenden Beitrag. Hier werden zur Zeit 2.500 HIV Patienten regelmäßig medizinisch betreut.
Die hochaufwendige kostenintensive und eingreifende HIV Therapie läuft allerdings stets den Neuerkrankungen hinterher. Bei den Bewohnern des Valleys dürfte es sich zwar im wesentlichen herumgesprochen haben, dass HIV per Sexualkontakt übertragen wird. Auch von der Existenz eines Kondoms dürften die meisten hier
Kenntnis haben. Doch die Neuerkrankungsrate ist ungebrochen hoch. Die eigentliche Crux in der Bekämpfung dieser Epidemie liegt meines Erachtens darin, dass “der afrikanische Mann als solcher” aufs Kondom pfeift, sich darüber lustig macht und es nicht benutzt. Und die Frauen sind nicht energisch genug, nur geschützten Kontakt zuzulassen.
Zwangsmassnahmen sind in der Intimsphäre nicht durchführbar. An Aufklärung mangelt es allerdings heftig. Was der Staat dafür tut, kann ich nicht beurteilen. Die Kirchen behindern häufig die notwendige Aufklärung und Verhütung. So wurden bis vor gar nicht langer Zeit in Baraka auch Kondome verteilt mit entsprechenden begleitenden Hinweisen von Seiten der Ärzte und Helferinnen. Die Erzdiözese, auf deren Grund Baraka steht, erhob Einspruch und verbot dieses unzüchtige Treiben.
Täglich werden zig Patienten auf HIV getestet. Die Testung ist mit starken Emotionen verbunden. Hier ein glückliches Ergebnis:
German Doctors und ihre Helferinnen
Die Arbeitsatmosphäre im Baraka habe ich als ausgesprochen angenehm erlebt. Die deutschen Ärzte wirken vorzugsweise hinter verschlossenen Türen, draußen prägen die Afrikaner den Ton. Die Zusammenarbeit ist gut, immer höflich und freundlich, gelegentlich auch laut und herzlich. Ich bin in Baraka anders als in Deutschland. Ich bin direkter, spontaner, lauter, bringe eine Menge Leute zum Lachen und lache selber viel. Es macht mir Spaß, mit meinen afrikanischen Mitarbeitern zusammenzuarbeiten. Und sie schätzen Doktor Knut.
Edna war meine “Übersetzerin” bei meinem ersten Einsatz. Die Rolle einer “Übersetzerin” besteht darin, im Gespräch auf Suaheli mit den Patienten deren Beschwerden und Krankheits-Vorgeschichte zu eruieren. Sie vermitteln den Kontakt zwischen Arzt und Patient. In ihrer routinierten Erfahrung wissen sie häufig schneller und besser, was mit den Patienten los ist als die 6-Wochen Ärzte aus Deutschland. Als solcher sitzt man mit seiner Übersetzerin 5 Tage in der Woche täglich 8 Stunden über 6 Wochen zusammen. Da ist es gut, wenn man sich gut versteht, was in Regel auch der Fall ist. Mein Kontakt zu Edna war unkompliziert direkt, im Ton locker, sachlich, häufig auch scherzig. Wir kamen gut miteinander hin.
In den letzten 3 Fotos erklärt sie der jungen Frau mit Kinderwunsch den weiblichen Zyklus, Die Unkenntnis über die fruchtbaren und die tendenziell unfruchtbaren Tage ist im Mathare-Slum erschreckend.
Fetica war meine Translaterin beim 2. Einsatz. Eine freundliche Frau mit einem großen Herz und fachlich unglaublich versiert. Spezialität: tropische Hautsymptome, die den deutschen Ärzten in der Regel nicht geläufig sind. Eine sehr vertrauensvolle Zusammenarbeit über 6 Wochen.
German Docs holten gern Rat bei ihr.
Die Mannschaft des “Feeding Centers”, das zu Baraka gehört. Hier werden untergewichtige Kinder aufgepeppelt und deren Mütter beraten. Auch werden chronisch Kranke unter Therapie, die zu schwach für einen Job sind, mit Essen für deren Familien versorgt.
Weitere freundliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
German Doctors, die nicht nur Ruheständler sein wollen oder schon in jungen Jahren andere Herausforderungen suchen.
Jung und alt verstanden sich prächtig
Outreach: Mobile Beratungsstellen für Mutter und Kind
Die gesundheitliche Betreuung der Kinder ist ein Schwerpunkt Barakas. Nicht nur, das unsere Kinderdoktorin Kristina jeden Tag 60-80 Kinder untersuchte und behandelte, 1x/Monat findet ein “Outreach” statt. Dann fahren Mitarbeiter zusammen mit dem Kinderarzt zu einem entlegenen oder besonders bedürftigen Viertel im Mathare Slum. Die ehrenamtlichen Community Helth Worker, überwiegend Frauen mit einer basismedizinischen Ausbildung, machen den Outreach in ihrem Viertel bekannt und trommeln reichlich Mütter mit Kleinkindern zusammen. Die Kinder werden gewogen, der Umfang ihrer Oberarme wird gemessen als beste und einfachste Screeningmethode, um Unterernährung festzustellen. Es wird gecheckt, ob Impfungen fehlen, der Kinderarzt wirft einen Blick auf sie und wenn sich Gesundheitsprobleme auftun, werden die KInder nach Baraka überwiesen.
Outreach in Kosovo:
Outreach am Rand des Mathare Valleys:
Das Personal kommt sich näher und wohin der Fotograf auch schaut, überall scheint er Freude zu katalysieren. Ein schönes Gefühl.
Dolphin
Aids-Waisen, die es bekanntlich in vielen afrikanischen Ländern gibt, in denen Aids grassiert, sind mir im Mathare Valley nicht begegnet. Das schließt nicht aus, dass es welche gibt. Die gängige Praxis hier in dieser Community besteht darin, dass Waisenkinder in der Familie einer Schwester der verstorbenen Mutter aufgenommen werden. Dann kommt es vor, wie ich es persönlich erlebt habe, dass eine Frau nicht nur 6 eigene Kinder hat, sondern noch 3 weitere Kinder ihrer verstorbenen Schwester großzieht. Das Hauptproblem ist das Geld. Denn alle hier, die vom Land kommend die Mühen eines Neustarts in Nairobi auf sich genommen haben, wollen, dass ihre Kinder eine möglichst gute Ausbildung bekommen, damit es denen eines Tages besser geht als ihnen.
Und dann gibt es noch solche helfenden Geister wie Dolphin. Auch Dolphin zählt zu den ehrenamtlichen Community Health Workers, die ein Auge auf besonders Hilfsbedürftige haben und in ihrem Netz manchen Strauchelnden auffangen.
Den kessen Jungen zur Linken (“Wayne”) hat sie als völlig unterernährtes Baby bei sich aufgenommen, als dessen Mutter an Aids gestorben war. Das cerebral behinderte Kind daneben war eines Tages von seiner Mutter im “Feeding Center” von Baraka “vergessen” worden. Dolphin hat 6 Jungen und 6 Mädchen bei sich und schläft mit ihnen auf dem Boden. Sie ist eine Seele von Mensch und strahlt große Güte aus.
Familiäre und nachbarschaftliche Hilfe werden im Slum groß geschrieben. Im Mathare Valley sind die meisten Menschen Christen, durchweg gläubige Christen. Hunderte von selbsternannten Kirchen tummeln sich im Tal. Soweit ich es mitbekommen habe, sind die großen christlichen Kirchen im und am Rand des Tals sehr gut besucht. Deren Gemeinschaften stützen einander.
Der Staat ist im Mathare Valley kaum präsent. Polizisten habe ich in 12 Wochen keine gesehen. Man behilft sich selber: Ein System von “Elders”, so etwas wie Dorfälteste, regelt und entscheidet vieles Wichtige im Tal..
Pater Peter
Pater Peter (“Peter” in englischer Aussprache) ist Schweizer, Benediktiner und mittlerweile 85 Jahre jung. Den größten Teil seines Lebens hat er in Afrika verbracht, die letzten knapp 40 Jahre in verschiedenen Regionen Kenias. Sein Herz gilt den Armen, den Flüchtlingen, den Gedemütigten. Seine Projekte zeichnen sich dadurch aus, dass sie im Gegensatz zur offiziellen “Entwicklungshilfe” tatsächlich die Bedürftigen trifft. Es handelt sich um praktische nachhaltige Hilfe. Mit einem eigenen Trust (genannt “Faraja” = Trost, Ermutigung) hat er beispielsweise im Masailand südlich von Nairobi ein Ausbildungszentrum für Agrarwirtschaft geschaffen. Junge Masai lernen dort nicht nur, was alles an Landwirtschaft neben der Rinderhaltung auf ihrem Boden möglich ist, sondern sie werden auch versiert in die Vermarktung ihrer Produkte eingewiesen.
Seit Herzblut gilt Langata, dem großen Frauengefängnis in Nairobi. Hier warten die Frauen in der Regel mehrere, bis zu 5 Jahren auf ihren Prozess, wenn ihnen das Geld für einen Anwalt fehlt. Aus dem gleichen Grund sind ihre Prozesschancen generell niedrig. Für diese Frauen interessiert sich offenbar niemand in Kenia. Ihre Haftbedingungen sind grauenhaft. Auf Pater Peters Initiative gehen unzählige kleine und größere Verbesserungen zurück. Zunächst schaffte er Bettgestelle und neue Matratzen ran, damit in Insassen nicht länger auf dem blanken Boden auf ihren verschlissenen Matratzen hausen mussten. Die Gefangenenküche wurde renoviert, eine Nähstube, ein Kosmetikzentrum, Computerkurse wurden eingerichtet, ein Schönheitswettbewerb zur Freude aller Insassinnen veranstaltet und vieles andere mehr.
Über viele Jahre hat Pater Peter jeden Sonntag eine katholische Messe im Gefängnis abgehalten, in letzter Zeit aus Altersgründen seltener. Ich hatte mit meinen Doktorskollegen zweimal Gelegenheit, einer solchen Messe beizuwohnen. Es ist atmosphärisch äußerst bewegend. Die afrikanischen Frauen, mache von ihnen lebenslänglich verurteilt, singen und tanzen, leiden und strahlen beim Gottesdienst und Peter, der die Messe auf Suaheli, also in ihrer Sprache liest, ist einer von ihnen.
Die tiefe Freude an dieser humanitären Arbeit trägt ihn durch sein langes Leben. Ich nenne Pater Peter meinen Freund.
Die Menschen
Schönheit, Würde, Charme
Die Geister sind nah
Das Erleben von Schmerz und Krankheit ist bei unseren afrikanischen Patienten grundlegend anders als bei uns. Wenn wir Bauchschmerzen oder Rückenschmerzen haben, dann versuchen wir, Ärzte wie Patienten, diese Beschwerden einem Körperteil, einem Organ zuzuordnen. Wir suchen nach einer Störung, einem Defekt unserer körperlichen Ausstattung: Es kneift im Bauch, weil der Darm gebläht ist, wie haben es im Kreuz, weil die Bandscheibe defekt ist. Wenn wir deutsche Ärzte mit Hilfe unserer Übersetzerinnen versuchen, entsprechende Diagnosen den afrikanischen Patienten zu vermitteln und ihnen konsequenterweise anraten, ihre Ernährung umzustellen oder sich bei den vielfältigen Rückenbeschwerden mehr zu bewegen, dann trifft dies in der Regel nur auf verhaltenes Verständnis. Als Arzt hat man immer wieder das Gefühl, am Patienten vorbeizureden. Irgendetwas Wichtiges, was ihre Beschwerden und ihre Krankheit betrifft, hat der German Doc offenbar nicht gerafft. Und es ist natürlich nicht am Patienten, den Doktor zu belehren oder aufzuklären.
Es beginnt bei der Beschwerdeschilderung. “Uchungu” (sprich: Utschungu), Schmerzen, im “Tumbo”, im Bauch, ist die Beschwerde, mit der ich als Allgemeinarzt in Baraka am häufigsten konfrontiert wurde. Wenn es irgendwo im Bauch weh tut, dann deuten die Patienten nicht nur einmal auf diese Stelle, um dem Arzt zu zeigen, wo der Schmerz sitzt, sondern mit ihren häufig feingliedrigen Fingern veranstalten sie so etwas wie ein Tremolo, dort, ja dort sitzt es, dort, ja dort sitzt es, sie beschwören geradezu diesen Schmerz, dieses “Übel”, das von ihnen Besitz ergriffen hat. Wenn man sie nicht bremst, können sie anhaltend in zahllosen Wiederholungen mit ihren Fingerspitzen die entsprechende Stelle in schnellem Rhythmus beklopfen. Ihr Gesichtsausdruck verrät dabei hohe Spannung. Dabei geht es offensichtlich nicht um Blähungen.
Häufig bleibt es nicht bei einer Stelle, an der sich “Uchungu” festgebissen hat, sondern es sind 2 oder 3 Stellen, manchmal ist der ganze Körper erfasst.
Als German Doktor fühlt man sich schnell genervt und stoppt den Zauber. Es war natürlich zuviel Luft im Bauch aufgrund einer sehr einseitigen Ernährung. Dabei übersehen wir, dass das afrikanische Alltagsleben von Magie durchtränkt ist, wie bei kenntnisreichen Autoren nachzulesen. Dabei übersehen wir, dass die Geister, auch die “witchcraft” in unserem großen Mathare-Dorf noch recht lebendig sind. Einmal rückte ein etwa dreißigjähriger HIV-Patient mit der Sprache raus. Er war schon vor Jahren in Baraka positiv getestet worden, hatte aber bald den Kontakt abgebrochen und kam jetzt aus irgendeinem Anlass wieder. Eine konsequente HIV-Therapie lehnte er ab, weil man ihm nicht helfen könne. Jemand in seinem Heimatdorf hatte ihm diese Krankheit geschickt, aus Rache und dieser jemand mit seiner Hexenkraft war viel zu stark für ihn. Er hätte keine Chance, er müsse sterben.
Auch im Slum gibt es reichlich traditionelle Heiler, die gern mit Rasierklingen Wunden setzten, aus denen dann dunkles Blut, das „Übel“ entweichen kann. Andere geben Wurzeln und Blätter, deren Aufkochungen zu trinken sind und die bösen Geister über tagelang anhaltendes Erbrechen und Darmentleeren aus dem Körper heraustreiben.
Mit diesen Prozeduren sind bekanntlich starke psychosomatische Heileffekte verbunden. Wenn das Übel entweicht, kann die Angst weichen, die der Motor vieler Beschwerden auch in unseren Breiten ist. Die konsequente Entleerung von Magen und Darm vermittelt gelegentlich das Gefühl eines Neustarts, einer Befreiung, als wäre ein “reset button” gedrückt. Psyche und Immunsystem hängen eng zusammen, so dass diese traditionellen Therapien durchaus zumindest vorübergehend das Immunsystem stärken können. Das Aids-Virus lässt sich durch diese Maßnahmen nicht vertreiben. Und die zahlreichen Aderlässe sind bei geschwächten Patienten sicher nicht zur Stärkung und Besserung geeignet.
„Uchungu“ gegen naturwissenschaftliche Medizin, Tradition gegen Moderne, 2 Welten. In der dörflichen afrikanischen Realität sitzen die „Ahnen“, die Geister der Verstorbenen mit am Tisch. Die Geister der verstorbenen Eltern, des Onkels, der Großmutter sprechen im täglichen Leben ein gewichtiges Wort. Sie können dem Glück im Leben den Weg bahnen, sie können strafen, Krankheit und Unheil schicken.
Die naturwissenschaftliche Medizin hat keinerlei Antennen für diese Wirklichkeit und qualifiziert sie verächtlich als Hokuspokus. In der Behandlung der großen Infektionskrankheiten, Aids, Tuberkulose, Malaria ist der naturwissenschaftliche Ansatz der Tradition 1000 Mal überlegen. Die moderne Medizin muss sich im Kampf gegen die großen Seuchen unserer Tage nicht um die Meinung der Ahnen kümmern. Wir müssen jedoch eingestehen und akzeptieren, dass wir mit all unseren medizinischen Bemühungen nur wenig zum seelischen Frieden, zum Seelenheil der Menschen beitragen.
Rausch
Überall auf der Erde suchen die Menschen den Rausch. Der Unwirtlichkeit des Alltags zu entfliehen und sich aufgehoben zu fühlen in der Welt, diesem Bedürfnis wird auch im Mathare Slum reichlich nachgegangen. Einige Beispiele:
“Busaa”: Busaa ist ein Gebräu, eine Art Bier aus Hirse und Mais. Überall im Valley gibt es “Busaa-Clubs”. Einmal habe ich einen solchen Club mit 2 Begleitern, einem German Doc und einem Einheimischen besucht. Mir war vorher gesagt worden, dass man Busaa aus Dosen mit einem Strohhalm trinkt, das klang doch ganz zuversichtlich. War auch so, man sitzt auf niedrigen Bänken eng beieinander, Musik dröhnt, das Bier wird in Dosen serviert, doch was sind das für Dosen? Vor Wochen war mal irgendwas in diesen Dosen verpackt gewesen, Tomaten oder Ghee, seitdem scheinen sie ununterbrochen im Club im Gebrauch. Über den Rand der Dose, die man mir vorsetzt, läuft die milchig-gelbe Brühe hinweg. Busaadosen werden nicht gereinigt, das ist hier so, wir sind doch nicht Deutschland. Der Strohhalm: ein Gummischlauch, offenbar schon seit Menschengedenken in Gebrauch. Die Wirtin saugt ein paarmal an dem Schlauch und prüft seine Durchgängigkeit, bevor sie ihn mir reicht, höchste Ehre für die weißen Gäste.
(Diese 4 Fotos stemmen von David Mbuthia, einem Patienten von mir in Baraka. Auf meinen Wunsch hin hat er diese Fotos in einem Busaa Club aufgenommen und mir dankenswerter Weise überlassen.)
Das Zeugs schmeckte etwas säuerlich, gar nicht mal übel. Wir nippten ein halbe Stunde an unseren Schläuchen, wer mehr davon trinkt, dem treibt das Hirsebier mächtig den Bauch auf, man lockert auf und natürlich kann man sich auch besaufen. Lustig war es schon im Club, weil ständig “Hawker” (“Hausierer”) durch den Laden kamen, um dies oder jenes anzubieten. Ich vergesse nicht den Blick einer jungen Frau, die sich im Kino wähnte, dies ungläubige Staunen, als sie uns sah: Zwei Muzungus (Weiße) im Busaa Club in Mabatini, das gabs doch gar nicht.
Der bekannteste Busaa-Club im Valley heißt “Meta-Meta”, “Shining-Shining”, da geht dann bei längerer Verweildauer und dröhnender recht melodischer westkenianischer Musik langsam die Sonne auf.
“Chang-ha”, auch Whisky genannt: hochprozentiger im Tal illegal gebrannter Schnaps. Dieser Stoff wird von den hard core Alkoholikern bevorzugt und ist kein Spaß.
“Miraa”, auch unter “Kat” bekannt. Blätter, die zusammen mit Erdnüssen gekaut werden und von der Erde abheben lassen. Miraa macht high, vertreibt den Alltag mit all seinen unangenehmen Wahrheiten, vertreibt auch den Schlaf und lässt die Nächte durchmachen.
“Kubér”: Tabakblätter zusammen mit Schokolade pulverisiert. “Things go more easy”, wenn man diese eigenwillige Spezialität unter die Zunge legt.
The big market
Der Gikomba Market ist einer der größten in Nairobi. Mit Matatu, einem der drängeligen Kleinbusse, eine gute Viertelstunde von Mathare entfernt. Man passiert Eastleigh, auch “Little Mogadischu” genannt, das Quartier der Somalier in Nairobi. Im Zentrum Banken, größere Geschäfte und Moscheen, dehnen sich am Rand von Eastleigh weitläufige Slums, bevor man den Gikombamarkt erreicht.
Altkleider-Sammlungen aus Deutschland und anderen Ländern werden auf diesem Großmarkt zur Ware. Händler aus ganz Nairobi decken sich hier mit Textilien ein und verkaufen sie in ihren Regionen wie auch im Mathare Valley.
“Bargaining” braucht Zeit und macht Laune
Man beachte den Preis der Avocados: 5 bzw. 10 Kenia Shilling entsprechen ziemlich genau 5 bzw. 10 Cent unseres Geldes.
Das afrikanische Lachen
Im Mathare Valley wird erheblich mehr gelacht als bei uns in Deutschland. Sie und wir: Mathare gegen Germany, Slum gegen Wohlstand, zwei Welten.
Die materiellen Unterschiede könnten nicht größer sein. Die elenden Wohnverhältnisse im Slum lassen einen “Muzungu”, einen Weißen, erschauern. Wir könnten hier nicht wohnen. Das Leben der Afrikaner ist hart, sehr hart. Die tägliche Unsicherheit, einen Job zu finden, ist groß, die Arbeit in der Regel schlecht bezahlt. Den meisten Slumbewohnern macht es große Mühe, die Schulkosten für ihre Kinder aufzubringen und damit ihrer wichtigsten Zukunftsvision nachzukommen: Den Kindern soll es besser gehen, sie sollen den Absprung aus der Enge und Armut finden. Die nächtliche Kriminalität macht Angst. Die extrem einseitige Ernährung aus Maisbrei (“Ugali”) und einem spinatähnlichen “Grünfutter” (“Sukuma wiki”) lässt so manchen lebenswichtigen Mikronährstoff auf der Strecke. Diese Lebensverhältnisse machen anfällig für Krankheit. Und aus traditionell mangelnder Verhütung hat das Aids-Virus im Tal einen fruchtbaren Nährboden gefunden und sich im Slum fest eingenistet.
Diese Lebensverhältnisse sind kein Spaß. Dennoch ist mir Verzweiflung auf afrikanischer Seite nur ganz ausnahmsweise begegnet. Allen Problemen zum Trotz scheint sich der ganz überwiegende Teil der Slumbewohner den Tag nicht verdrießen zu lassen. Das Leben ist laut, vital, überall ist man in Kontakt miteinander, lacht, scherzt, flucht, tut sich wichtig und schlägt sich eben so durch. So fiel mir auf, dass sich nachmittags gegen vier, wenn der Dienstschluss in Baraka nahte, eine korpulente Frau am Personalausgang der Ambulanz Platz nahm. Sie hatte einen Eimer voller Tulapia (Victoriabarsch) dabei, begann, die Fische zu säubern und zu verkaufen. Diesen lukrativen Platz einzunehmen, hatte sich offenbar vor ihr niemand getraut, als sie beschloss, diese Lücke zu füllen. Überall wird improvisiert, mit Phantasie und Willenskraft lässt sich niemand unterkriegen, im Gegenteil, jeder sucht seinen Platz im Leben.
Sie und wir: Das häufigste Klischee: Die Afrikaner leben in den Tag hinein, wohingegen wir Europäer diese Lockerheit verloren haben, uns ständig um unsere Zukunft Gedanken und Sorgen machen und bemüht sind, uns absichern. Wir haben alles und wollen es natürlich nicht verlieren.
Wie in jedem Klischee steckt Wahres und Falsches darin. Die Mitarbeiter von Baraka, die ich näher kennenlernte, machen sich sehr wohl viele ernste Gedanken um ihre berufliche und damit um ihre materielle Zukunft. Wenns Geld knapp ist und eventuell knapper zu werden droht, ist es vorbei mit der Lockerheit. Auf der anderen Seite trifft dieses vielzitierte Klischee natürlich auch viel Wahrheit. “Heute ist heute”, alle Einschränkungen im Alltag, alle aktuellen Probleme und alle Zukunftsunsicherheiten hindern die meisten Afrikaner im Slum nicht daran, häufig miteinander zu scherzen, fröhlich zu sein und unglaublich viel zu lachen.
Das afrikanische Lachen ist für mich ein absolut elementares Phänomen. Es trägt die Menschen durchs Leben. In ihrem überbordenden lauten Lachen bündelt sich Frische, Leichtigkeit, Lebendigkeit. Es ist ansteckend, man kann sich ihm nicht entziehen. Ich habe versucht, den Ursprungsort dieses Phänomens zu lokalisieren und vermute ihn direkt unter der Schädeldecke. Da mag jemand in einem Moment sehr ernst in die Welt schauen, ein Blick, ein Lächeln, ein Wort genügt, um die Schädeldecke zu durchdringen und dieses Lachen im nächsten Moment
hervorzulocken und explodieren zu lassen. In meiner Ambulanztätigkeit ist mir immer wieder aufgefallen, wie sehr Lachen und Strahlen die Gesichter schön macht. Ich habe auch noch nie so viele faltenlose Gesichter gesehen wie in Baraka. In ihrem Lachen manifestiert sich für mich am deutlichsten die phänomenale afrikanische Fähigkeit, allen schweren Problemen zum Trotz, glücklich zu sein.
Nur wer geöffnet ist, wird in ihre Welt einbezogen. Wenn ich nach der Arbeit in Gedanken vertieft meinen Weg zurück zu unserer Unterkunft eingeschlagen habe, hat mich kaum jemand angesprochen. Wenn ich hingegen aufrecht, mit interessiertem freundlichen Blick die Hauptstrasse hinunter ging und den Menschen in die Augen sah, dann wurde ich ständig angesprochen, “Muzungu hin, Muzungu her”, man grüßte mich, ein nettes Wort, ein “Joke” gab den anderen, es wurde gescherzt und gelacht. Die feinen Antennen, dieses feine Gespür für den anderen ist mir bei den Afrikanern in Baraka und im Valley immer wieder aufgefallen. Statt kalkulierender Kühle dominiert spontane Emotionalität.
Sie und wir. Wir leben viel isolierter. Der Slum ist wie eine große Dorfgemeinschaft. Die Grundeinheit des ostafrikanischen Zusammenlebens ist der Clan, die Familie. Aber nicht Vater, Mutter und wenige Kinder, sondern die gesamte Verwandtschaft und alles über drei Generationen. Wenn ein junger Mann aus dem Luo-Land nach Nairobi möchte, dann wird er immer bei einem Verwandten unterkommen, vielleicht nicht immer zu dessen Freude. Wenn ein alter Mann im Slum verstirbt und der Leichnam natürlich in seine heimatliche Erde am Victoriasee überführt werden muss, was viel Geld kostet und die dortigen Trauerfeierlichkeiten zwei Wochen dauern und man in dieser Zeit kein Geld verdienen kann, dann verschuldet sich der Clan und stützt den einzelnen.
Die Bande des Clans, ständige nachbarschaftliche Gemeinsamkeit, auch kirchliche Bande, Netzwerke wie die freiwilligen Health Workers von Baraka, überall trifft man im Slum auf gemeinschaftliches Leben. Ein unschätzbarer Wert.
Zum Glück ist Europa weit weg vom Mathare Valley, so dass sich gegenwärtig kaum jemand aufmacht, um die Festung Europa zu erreichen. Die Flüchtlingsdramen an Europas Grenzen haben eine unerträgliche Dimension erreicht. Das Mittelmeer ist zum Massengrab geworden. Wenn ich im Fernsehen afrikanische Gesichter sehe von Menschen, die die Überfahrt überlebt haben und nun hoffnungsfroh in Europa Fuß fassen wollen, dann wird mir ganz schlecht. Kein Afrikaner, so gut wie niemand von ihnen, wird bei uns glücklich. Kaum einer will sie hier und vor allem, sie sind ihres Clans, ihres Dorfes, ihres Slums entwurzelt. Ihr Lachen versiegt, sie sind zum Unglücklichsein verurteilt.
Zwei Zitate von zwei Kennern des afrikanischen Alltags:
Pater Peter schreibt: ” Damit sind wie wieder beim einfachen Volk, das uns Europäern an Lebensqualität so viel voraushat – an Zufriedenheit, Frohmut, Spontaneität, Frömmigkeit, Würde, Leidensfähigkeit….”, das uns Europäern an Lebensqualität soviel voraus hat(!). Pater Peter hat 2 lesenswerte Bücher geschrieben, man sollte bei Interesse mit “Peter Meienberg, Mein Leben in Afrika, Blaukreuz Verlag, Bern” beginnen.
Henning Mankell, der schwedische Autor, der sein halbes Leben in Mozambique verbringt, schickt in seinem Roman “A Treacherous Paradise”, (“Ein heimtückisches Paradies”) eine ältere schwedische Dame auf der Suche nach einer bestimmten Person in die Slums von Beira/Mozambique. Nach anfänglichem heftigem Kulturschock bemerkt sie bei ihren wiederholten Besuchen der schwarzen Settlements etwas anderes. “Sie entdeckte eine unerwartete Lebenslust unter den Ärmsten der Armen. Der geringste Anlass, Freude zu erleben, wurde nicht nachlässig zur Seite geschoben, sondern mit beiden Händen ergriffen. Die Menschen unterstützten einander, obwohl sie wirklich nicht viel zu teilen hatten.”
Und diese Frau fühlt sich bald gedrängt, in ihr Tagebuch folgendes zu schreiben: “Unter der unvorstellbaren Armut sehe ich Inseln des Wohlstands. Ein Glück, das es überhaupt nicht geben sollte, eine Wärme, die niemals überlebt haben sollte. Diese Entdeckung macht es mir möglich, in den weißen Menschen, die hier leben, eine unterschiedliche Art von Armut zu entdecken bei all ihren Reichtümern und ihrem Wohlergehen.”
Und eine Anekdote:
Ein ostafrikanischer Fürst besuchte vor 20 oder 30 Jahren Deutschland auf Einladung der Bundesregierung. Man fragte ihn, wofür er sich bei uns besonders interessiere und seine Antwort war: Rinder, von Rindern verstand er was. Man zeigte ihm daraufhin eine Reihe von deutschen Prachtexemplaren und er war beeindruckt, von der Größe, der Milchleistung, usw. Zum Abschied wollte man ihm 50 dieser Tiere für sein Land schenken. Er lehnte dankend ab, er habe den Rindern in die Augen gesehen, sie haben traurige Augen.
Sie und wir: Sie sind im Materiellen schwer benachteiligt, wir im Emotionalen und Sozialen. Emotional vom Wesen her begnadet und sozial von der Slum-Gemeinschaft her reich beschenkt, hat die von mir im Mathare Valley erlebte afrikanische Wirklichkeit erhebliche Pluspunkte, in ihrer Lebendigkeit und Frische gelegentlich auch Zauber. Das hilft, die Härten des Lebens zu ertragen.